EDITORIAL ZUKUNFT 11/2023: BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN – VON ALESSANDRO BARBERI UND ROLAND PAGANI: Geht es um die Frage der Deckung von Grundbedürfnissen wird ein eminent wichtiger Bereich progressiver und mehr noch sozialdemokratischer Politik zur Diskussion gestellt. Denn dass die Demokratie im Sinne der Umverteilung auch in den materiellen Lebenswelten der Menschen ankommen muss, ist seit jeher ein Kernbereich der Sozialdemokratie. Dabei sichern bis dato die sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Regulative diese Grundsicherung bis zu einem gewissen Grad, wobei in den letzten Jahren intensive Diskussionen zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) zu verzeichnen waren, die 2020 auch zu einem erfolgreichen Volksbegehren führten. Dadurch musste sich auch der österreichische Nationalrat mit dem BGE auseinandersetzen. Deshalb hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen, den Diskussionen zum BGE eine eigene Ausgabe zu widmen, um unseren Leser*innen die Möglichkeit zu bieten, sich ein umfassendes Bild vom diesbezüglichen Stand der Dinge zu machen.
Dies beginnt mit dem hoch informativen Beitrag von Helmo Pape, der sich – ausgehend von den Positionen der diesbezüglich sehr kompetenten Generation Grundeinkommen (https://fuereinander.jetzt/) – die Mühe gemacht hat, Lösungsansätze für soziale und ökologische Fragen zu diskutieren, die mit dem BGE verbunden sind. Das Papier zeigt aus verschiedenen Perspektiven, wie ein BGE begründet, definiert und zukunftstauglich finanziert werden kann, um so seine prinzipielle Plausibilität mit möglichst rationalen Argumenten in die Diskussion einbringen zu können. Unter anderem erfahren die Leser*innen der ZUKUNFT in diesem Zusammenhang, dass die Einführung des BGE nicht nur die Grundbedürfnisse der Menschen decken, sondern unserer Republik auch einen globalen Standortvorteil bieten könnte. Auch, so Pape, würde ein BGE direkt die Freiheit aller Bürger*innen fördern und somit auch dem Ausbau unserer Demokratie auf materieller und politischer Ebene dienen können.
Dass sich einer derartigen Argumentation auch entgegenhalten lässt, dass sie ganz im Sinne „freier Märkte“ dem Neoliberalismus Tür und Tor öffnet, berücksichtigen dann John Sokal und David Walker. Ihr Beitrag ist durchaus nicht gegen ein BGE, zeigt aber auch deutlich auf, unter welchen sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen ein Grundeinkommen überhaupt bedingungslos wäre. Dabei steht vor allem der Gedanke vor Augen, dass das BGE nur dann sinnvoll realisiert werden kann, wenn die klassischen Träger des Sozial- und Wohlfahrtsstaats nicht ausgehebelt, sondern deutlich einbezogen werden. Dabei liefern unsere Autoren bemerkenswerte Informationen zur Vorgeschichte des BGE und rekapitulieren in diesem Kontext auch seine Vorläufer im Rahmen der Ökonomiegeschichte und ihrer Modellbildung u. a. bei Adam Smith und Bertrand Russel. Davon ausgehend steht ein Bild der konkreten Rahmenbedingungen vor Augen, welche die Umsetzung eines BGE in Österreich denkmöglich machen.
Im Sinne eines Essays versuchen sich dann Josef Zeisel und Peko Baxant an einer Diskussion des Endes von Lohnarbeit, wenn auch sie die Möglichkeiten eines BGE durchspielen und dabei tief in die innere Struktur unserer Gesellschaft blicken: Denn es ist eine grundlegende Veränderung des Begriffs „Arbeit“ zu konstatieren, auf den sozialdemokratische Politik reagieren muss, will sie die kapitalistische Produktionsweise in einer Wissens- und Informationsgesellschaft angemessen erfassen. Dies auch angesichts der Dritten Industriellen Revolution im Sinne von Automatisierung und Digitalisierung. So geht es hier um die Erkenntnis, dass wir alle im solidarischen und kollektiven Sinne bereits jetzt miteinander und füreinander arbeiten, weshalb wir eine deutliche Trennung von „Einkommen“ und „Arbeit“ benötigen. Deshalb sehen auch Zeisel und Paxant im Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) eine der wichtigsten sozialpolitischen Baustellen unserer Zeit.
Auch freut es die Redaktion der ZUKUNFT, einen pointierten Artikel von Barbara Prainsack präsentieren zu dürfen, der im Umfeld der Diskussionen zum BGE die Frage der sozialen Gerechtigkeit genauso vor Augen führt wie den Umstand, dass die Finanzierung des BGE nicht zur zentralen Frage werden sollte. Denn die Deckung der Grundbedürfnisse aller Bürger*innen ist mehr als eine budgetäre Angelegenheit. Sie berührt direkt die Demokratie. Dabei ist ein Hauptargument, dass Arbeit – und insbesondere auch Erwerbsarbeit – nicht nur Geld bringt, sondern auch soziale Kontakte und Wertschätzung. Idealerweise würde „Arbeit“ in diesem Sinne auch Sinn stiften. Wenn dem aber so ist, dann gibt es keinen Grund, zu fürchten, dass in einer Gesellschaft mit BGE plötzlich nur noch alle in der Hängematte liegen. Die Jobs, die keiner tun will, würden weiterhin getan werden – man müsste sie nur besser bezahlen und in vielen Fällen auch die Arbeitsbedingungen verbessern.
Michael Ertl bringt in der Folge mit seinem luziden Beitrag die Debatten zum BGE aus Sicht der notwendigen Verteidigung des Sozialstaats auf den Punkt. Das BGE darf mithin keinesfalls zur Abschaffung sozialstaatlicher Absicherungen führen. Denn die in dieser Ausgabe der ZUKUNFT diskutierten hehren Ziele der progressiv ausgerichteten Befürworter*innen eines Grundeinkommens sind wichtige Perspektiven, die verdeutlichen können, wo die blinden Flecke des bestehenden Sozialstaates liegen. Dabei haben viele der vorgeschlagenen Finanzierungsmaßnahmen eine doppelte Dividende, denn sie haben das Potenzial, Armut zu verhindern und extreme Vermögens- und Machtkonzentration aufzulösen, so Ertl. Die Umsetzung eines existenzsichernden Grundeinkommens ist jedoch nach wie vor mit großen Unsicherheiten verbunden, die nur durch einen konsequenten Ausbau und die nachdrückliche Stabilisierung des Sozialstaates vermieden werden können. Vielleicht ist also gegen eine rein (neo)liberale Auffassung ein BGE bei voller sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Absicherung das geeignetste Modell?
Einen diesbezüglichen Blick aufs Detail verschafft uns in der Folge Roland Pagani, der in seinem Artikel eine weitläufige Diskussionsgrundlage zur Verfügung stellt. Durchaus nicht unkritisch, greift er eine breite Auswahl an Argumenten auf, welche für die Umsetzung eines BGE sprechen und analysiert dabei die Auswirkungen auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Ihm geht es, im Rahmen eines Argumentariums, darum, wie das BGE Existenzängste mindern, Handlungsspielräume erweitern und eine breite Basis für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung schaffen kann. Der Weg zu einem BGE ist durchaus mit Herausforderungen verbunden, doch die Vorteile machen es zu einer diskussionswürdigen und lohnenden Option. Es ist, so Pagani, von essenzieller Bedeutung, ein Finanzierungsmodell zu etablieren, das die gewünschten sozialen Effekte maximiert und zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen beiträgt. Weitere Diskussionen und Analysen sind aber auch hier erforderlich, um eine Lösung zu finden, die den Anforderungen eines sozial- und wohlfahrtsstaatlich abgesicherten BGE gerecht wird.
Zum Abschluss unseres Schwerpunkts zum BGE dürfen wir dann den Beitrag von Georg Vobruba vorstellen, der sich ebenfalls eingehend mit den umfassenden Diskussionen zum BGE befasst und dabei die Mehrdeutigkeiten der Bedingungslosigkeit analysiert, um das BGE aus der Utopiefalle zu führen. Dabei werden Fragen des möglichen BGE-Angebots genauso diskutiert wie bereits erfolgte Grundeinkommensexperimente und Aspekte der Digitalisierung. Die unvermittelte Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen, so unser Autor, hat etwas stark Entlastendes, weil wir uns in den Diskussionen zum BGE in der heilen Welt des Normativen bewegen: Erst wird ein schlechter gesellschaftlicher Ist-Zustand diagnostiziert, dann wird ihm ein Grundeinkommen als Soll entgegengesetzt. Doch genau dieses Gefälle zwischen Norm und Wirklichkeit markiert deutlich den Möglichkeitsraum einer Utopie, in der eine neue Sozialpolitik Kontur gewinnen kann, wobei politische Aktionen die Analyse nicht ersetzen können, sondern auf ihr aufbauen sollten.
Unsere Diskussionen zum BGE sind auch in dieser Ausgabe mit einer wunderschönen Bildstrecke verbunden, die Jagoda Lessel uns freimütig zur Verfügung gestellt hat, wofür wir ihr herzlich danken wollen. Und so wie bei den sozialpolitischen Diskussionen zum BGE steht auch in den Arbeiten dieser herausragenden Künstlerin der Mensch im Mittelpunkt aller Betrachtungen und Bilder. Denn Menschen hinterlassen Stimmungen und Spuren, die dann durch Farben und Formen lebendig werden. Lessels Arbeiten sollen einerseits Energie, Lebenskraft, Tatendrang, Freude und Zufriedenheit vermitteln und bieten dabei den dunklen Seiten des Lebens Paroli. Insofern markieren auch die sensiblen Malereien unserer Bildstrecke einen utopischen Horizont … Am Ende unserer Ausgabe erklärt uns deshalb Jagoda Lessel auch, warum ihre Kunst das Leben selbst darstellt.
Zusammenfassend wollen wir festhalten: Am BGE scheiden sich die Geister, wenn es darum geht, zu diskutieren, wie die Ressourcenverteilung in einer Klassengesellschaft so organisiert werden kann, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen im Sinne der Gleichheit gedeckt werden können. Insofern hoffen die Herausgeber und die Redaktion der ZUKUNFT mit dieser Ausgabe eine Diskussionsbasis und argumentative Orientierungshilfe zu bieten, die es möglich machen soll, sich im Dickicht der Argumente rund um das BGE zurechtzufinden. Insgesamt meinen wir, dass eine Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) gerade dann in (politische) Erwägung gezogen werden könnte, wenn dadurch eben keine Zerstörung oder Liberalisierung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates eingeleitet wird. Denn in dieser doppelten Absicherung der Grundbedürfnisse aller Bürger*innen könnte sich allererst eine soziale Demokratie ergeben, die wirklich und ganz konkret in der Geldbörse der Menschen ankommen würde.