Editorial ZUKUNFT 07/2024 Umverteilung – VON ALESSANDRO BARBERI UND CONSTANTIN WEINSTABL
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EDITORIAL: Seit jeher ist der Problemkreis der Umverteilung (von Oben nach Unten) ein zentrales Anliegen der Sozialdemokratie. Sei es, dass gravierende Einkommens- und Klassenunterschiede diskutiert werden, sei es, dass die ungerechte materielle Ressourcen- und Energieverteilung in unserer Gesellschaft vor Augen steht oder sei es auch, dass deutliche Ungleichheiten und Selektionsmechanismen in unserem Bildungssystem auszumachen und zu kritisieren sind. Dies steht auch damit in Zusammenhang, dass unsere Demokratie mit der Garantie liberaler Freiheit genauso verbunden ist, wie mit der normativen Setzung sozioökonomischer Gleichheit, die indes nach wie vor nicht umgesetzt und realisiert ist. Mit Fug und Recht kann mithin behauptet werden, dass die Forderung nach Umverteilung mit den grundlegenden Anliegen der Arbeiter*innenbewegung verbunden war und nach wie vor ist. Deshalb hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen, dem Thema Umverteilung eine eigene Ausgabe zu widmen, um dieses Problemfeld aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Es freut uns sehr, dass wir auch diesmal wieder eine bemerkenswerte Runde an Autor*innen präsentierten können, deren Expertise von besonderer Qualität ist.
So eröffnen wir unsere Ausgabe mit einem luziden Beitrag von Bernadette Weber, die der Frage nachgeht, ob Umverteilung eine Frage der Moral oder der Politik ist. Dabei geht unsere Autorin auf das grundlegende Problem unserer Gesellschaften – nämlich die ungleiche Verteilung von Ressourcen – ein und betont dabei, dass wir – im Rekurs auf John Dewey – einen pragmati(sti)schen Zugang benötigen, um politisch tatsächlich für Gleichheit sorgen zu können. Dies wird gegenwärtig auch im Blick auf die Kampagne zur Besteuerung von Superreichen – „Tax the rich!“, „Taxmenow“ – von Marlene Engelhorn deutlich, die zur Verteilung eines Teils ihres Vermögens einen repräsentativen Bürger*innenrat eingesetzt hat. In diesem Zusammenhang betont Weber, dass sich in der westlichen Ethik und Moralphilosophie der vergangenen zehn Jahre ein zunehmendes Interesse für die Idee des moralischen Fortschrittes entwickelt hat, was daran liegen könnte, dass Menschen besonders in Krisenzeiten daran glauben wollen, dass bestimmte Umstände (wieder) besser werden können. So betont etwa der Pragmatist Philip Kitcher, dass die ungleiche Verteilung innerhalb von Gesellschaften, Generationen und der Welt aktuell das größte moralische Problem darstellt. Die Lösung dieses Problems, so Weber, kann nur im Sinne des politischen Fortschritts in Angriff genommen werden, wenn der Begriff der Gerechtigkeit neu bestimmt und konkretisiert wird.
Auch Jasmin Mrzena-Merdinger hält fest, dass die Verteilungsfrage in einer Welt voller sozialer, wirtschaftlicher sowie politischer Disparitäten immer drängender wird und in allen Wortbedeutungen eine Frage der Klasse ist. Insbesondere aus Sicht der Arbeitnehmer*innenvertretung ist es entscheidend, die Ungleichheiten in der Arbeitswelt anzugehen und abzubauen. Denn harte Einkommensunterschiede und ungleiche Aufstiegschancen spalten die Erwerbsbevölkerung und gefährden das soziale Gefüge unserer Gesellschaft genauso wie grundlegende Werte und Strukturen der Demokratie. Die daraus resultierende Verschärfung der Probleme birgt ein großes systemimmanentes Risiko für soziale Unruhen, Polarisierungen und mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dabei betont unsere Autorin nachdrücklich, dass die Verteilung von Reichtum in Österreich besonders ungleich ist, da die reichsten fünf Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten privaten Vermögens des Landes besitzen. Dies hat zur Folge, dass die klassenspezifische Kluft zwischen den Reichen und dem Rest der Gesellschaft unaufhaltsam wächst, weil diejenigen, die bereits viel besitzen, immer mehr anhäufen können. Mrzena-Merdinger hebt in aller Deutlichkeit hervor, dass es sich dabei um ein systemisches Problem handelt, weshalb sie auch die Systemfrage stellen kann: Is the system failing? Abhilfe könnten dabei auch Investitionen in Bildung schaffen. Denn sie ist nicht nur ein Motor für die individuelle Entfaltung, sondern auch ein zentrales Instrument, um soziale Ungleichheiten abzubauen und Chancengleichheit in einer Gesellschaft zu fördern.
Genau deshalb kümmert sich auch Helmut Pecher um unsere Bildung, wenn er mit seinem Beitrag Klassen-Job unterschiedliche Anforderungen und Herausforderungen im österreichischen Bildungssystem beleuchtet, die von einem professionell ausgebildeten und habitussensiblen Personal über sozial selektierende Strukturfaktoren bis zu Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit reichen. Dabei erfahren unsere Leser*innen, dass Klasse-Job eine derzeit laufende Initiative des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) für Schulen und Elementarpädagogik ist, die Quereinsteigende in das Bildungswesen locken soll, um immer größere Personallücken zu stopfen. So wird mit diesem Beitrag deutlich, dass es auch bei Lehrpersonen um die Frage der Klasse bzw. die eigene Herkunft geht und darum, wie sehr die jeweilige (familiale bzw. schulische) Ressourcenausstattung die Art des beruflichen Handelns bestimmt. So kann auch die Schulklasse als Raum des Lehrens und Lernens gesehen werden, in dem die materielle Ausstattung, die soziokulturelle Zusammensetzung der Schüler*innen und die Person der Lehrkraft maßgebliche Faktoren darstellen. Symbolisch stellt der Klassenraum auch jenen Sozialraum dar, der soziale Selektionskriterien und gesellschaftsbezogene Umverteilungsmechanismen manifest werden lässt. Dabei verdeutlicht Pecher seine Thesen u. a. im Blick auf die Bildungssoziologie Pierre Bourdieus, die in einem Satz zusammengefasst werden kann: Der Klassenkampf beginnt in unseren Schulklassen und läuft über die Klassifikationen der Lehrenden.
Wie hart und gravierend die ungleiche Verteilung von Lebenschancen im und durch das Bildungssystem reproduziert wird, analysiert dann auch Florian Rainer, der deutlich macht, dass im bürgerlich-kapitalistischen System der individuelle Nutzen und damit die Brutalität der Konkurrenz im Vordergrund steht und gerade nicht die Solidarität. Zwar wird im Rahmen der demokratischen Öffentlichkeit häufig über Chancengleichheit diskutiert, doch viele Menschen leben gerade nicht unter idealtypischen Bedingungen. Stattdessen kämpfen sie um gleiche Chancen in einem Wettlauf mit ungleichen Voraussetzungen. Deshalb stellt sich auch hier eine entscheidende Frage: Wie können Bildung und Demokratie diese Ungleichheiten überwinden? Auch Rainer hält dahingehend fest, dass in Österreich die sozioökonomische Ungerechtigkeit offensichtlich und beschämend ist: 1,59 Millionen Menschen sind armutsgefährdet und die ungleiche Vermögensverteilung verstärkt dieses Problem. Das reichste Prozent besitzt fast die Hälfte des Nettovermögens in Österreich. Zusammenfassend hält unser herausragender Bildungswissenschaftler deshalb fest, dass in einer Zeit, in der gesellschaftliche Spaltung und Ungleichheit im Bildungswesen zunehmen, mehr als deutlich wird, dass Bildung mehr sein muss als nur die Vermittlung von Wissen. Denn Bildungsgerechtigkeit umfasst die Gewährleistung von Chancengleichheit ebenso wie die Förderung sozialer Teilhabe und individueller Entwicklung.
Eine weitere Perspektive auf unser Schwerpunktthema liefert dann Bernhard Müller, der kommunalwissenschaftliche Betrachtungen zur Verteilungsgerechtigkeit anstellt, indem er an den schon zu Lebzeiten legendären Wiener Finanzstadtrat Hans Mayr erinnert. Dieser hat 1984 ein schmales Bändchen mit dem Titel Der geschröpfte Städter. Die Finanzausgleichsstory publiziert. Müller geht mit seinem Artikel demgemäß der Frage nach, inwieweit 40 Jahre später die Städterinnen – überspitzt formuliert – noch als „geschröpft“ bezeichnet werden können und welche Schlüsse sich im Blick auf den Gegensatz von Stadt und Land daraus ergeben. Dabei fasst er grundlegende Informationen zum Finanzausgleich zusammen und hebt hervor, dass Österreich ein föderaler (und sehr kleinteiliger) Staat ist, in dem neben dem Bund auch die neun Länder und 2.093 Kommunen (Städte und Gemeinden) Aufgaben wie die Daseinsvorsorge übernehmen. In diesem Kontext wird die Verteilung von Gemeindemitteln kritisch betrachtet, um deutlich zu machen, dass in Österreich nach wie vor ein Kirchturmdenken und ein Gamsbartföderalismus vorherrschen, die dafür sorgen, dass die Städterinnen ihr Umland stark mitfinanzieren und sich so für sie starke Nachteile ergeben. So gesehen hatte Hans Mayr also recht: Vielen ist der Finanzausgleich überhaupt nicht geläufig und er führt ein Schattendasein, obwohl er für das Zusammenwirken von Bund, Ländern sowie Städten und Gemeinden ein wesentlicher Faktor ist. Ein aufgabenorientierter Finanzausgleich wäre aber, so Müller abschließend, wichtig, weil er einerseits für Verteilungsgerechtigkeit und Umverteilung sorgen könnte und andererseits die für die Daseinsvorsorge und öffentliche Wirtschaft unverzichtbaren urbanen Zentren endlich stärken würde.
Darüber hinaus freut es uns, dass wir in Kooperation mit der Wiener Bildungsakademie (wba) die Werke von Robyn Woolston vorstellen dürfen, womit wir erneut eine herausragende Künstlerin für unsere Bildstrecke gewinnen konnten. Denn auch der für Woolston so bedeutsame Klimawandel ist und bleibt eine der größten sozialen Fragen unserer Zeit. Er betrifft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und verstärkt soziale Ungleichheiten. Besonders betroffen sind benachteiligte Gruppen, die weniger Ressourcen zur Anpassung haben und oft am stärksten unter den Auswirkungen leiden. Projekte wie Wollstons Turning the Tide zeigen, wie Kunst und Kultur zur Sensibilisierung und Lösung dieser globalen Herausforderung beitragen können. Bernd Herger hat die Ausnahmekünstlerin interviewt, weshalb am Ende unserer Ausgabe zu lesen ist, was davor auch gesehen werden kann. Tauchen Sie ein in ein Field of Dreams, fühlen Sie sich wie Strangers in a Strange Land und verwenden Sie den Link zu Woolstons Film Edgeland …