»Was war der Vielvölkerstaat Sowjetunion, der immerhin sieben Jahrzehnte lang das Leben von über zweihundert Millionen Menschen bestimmte? Wie funktionierte das Miteinander der multiethnischen Gemeinschaften, die in einer Vielzahl von sowjetischen Städten über Jahrzehnte bestanden? Anders gefragt, wie gelang es den Menschen, nach den Exzessen der Gewalt – Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Zweiter Weltkrieg – einander wieder in die Augen zu schauen und neues Vertrauen zu fassen? Oder waren die gemeinsam verlebten Jahrzehnte nach Stalins Tod nichts weiter als ein Ausharren, ein Warten auf das ›Ende der Geschichte‹?« Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte Walter Sperling in dieser mitreißend erzählten Alltagsgeschichte an den Rand der ehemaligen Sowjetunion, nach Grosny. Dort bündelt sich wie in einem Brennglas das Kräftespiel von Widerstand und Integration, im Ringen des russischen Imperiums und der Peripherie, der Kolonisatoren und Kolonisierten. Erst Garnisonsort, dann Boomtown des Erdöls, nach der Oktoberrevolution Baustelle des Sozialismus, wenig später Frontstadt im Visier der deutschen Wehrmacht. Nach der Deportation der Tschetschenen und Inguschen 1944 und deren Rückkehr 1957 hörte man lange nichts mehr von dem beschaulichen Städtchen im Kaukasus, das beharrlich um seinen sozialen Frieden rang. Bis zum ersten russischen Tschetschenienkrieg, als Grosny erneut in Ruinen endete. Die Eskalation und die Radikalisierung zeichnet Walter Sperling nach. Vor allem aber macht er die Bemühungen sichtbar, Brücken zu schlagen und zu vermitteln, weil die Eliten der multiethnischen und multireligiösen Peripherie wussten, was der Preis von Entfesselung ist. (Verlagstext)
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Die Mythen der Völkerfreundschaft io / Eine Stadt an der imperialen
Peripherie 12 / Die Spuren und Quellen einer Geschichte 13 /
Alltag und Zivilisation: Fragen an Grosny 16
-------- 9
Kapitel 1
Vom Vorposten des Imperiums zur Boomtown des Öls
Die Festung an der Sunscha 20 / Hinter dem Fluss: das Land der
Tschetschenen 27 / Der Kolonialkrieg, die Verheißung des Islam
und die Zwänge des Dschihad-Staates 32 / Von Widerstand zu Eigensinn:
Plädoyer für postkoloniale Perspektiven 44 / Boomtown des Öls
im Zeichen der Verbürgerlichung 51
-------- 20
Kapitel 2
Brennende Ölfelder 1917: Revolution, Bürgerkrieg, Terror
Streik, Revolution und Pogrom: Grosny 1905 78 / Wut und Angst:
Gewaltgemeinschaften der Revolution 88 / Inmitten des Bürgerkrieges:
Grosny 1917-1920 93 / Fragiler Frieden: die Schwäche des
bolschewistischen Staates 100
-------- 77
Kapitel 3
Der Kampfums Öl, um den Plan und um eine sowjetische Nation
Grosneft - ein Ölkonzern entsteht 108 / »Russische« Stadt,
»tschetschenisches« Land in / Hauptstadt einer sowjetischen
Nation 117 / Baustelle und Brückenkopf der sowjetischen Zivilisation 135 /
Produktionserfolge nach Plan: Druck, Terror, Angst 140 / Stalinismus
als Zivilisation: die Stadt und die Versprechen der Heterotopie 148
105
Kapitel 4
Brennende Ölfelder 1942: Hitlers Krieg, Stalins Deportation
Der Kaukasus, das Öl und die Wehrmacht am Terek 161 / Freund
und Feind in den Bergen 166 / Die Suche nach Eindeutigkeit hinter
der Front 170 / Die Deportation: »sowjetische« Nation, »feindliche«
Nation 187 / Im Niemandsland 200
---------159
Kapitel 5
Nachkriegsidyll aus dem Geist des Stalinismus
Erdöl für den Kalten Krieg 205 / Jenseits der Repression: zur Signatur
der Nachkriegszeit 207 / »Gezähmte Helden« und das kleinbürgerliche
Glück 211 / Ordnung, Fleiß, Familiensinn: Konturen einer Nachkriegsgesellschaft 216 / Grosny - ein Nachkriegsidyll 226
-------- 204
Kapitel 6
Im Tauwetter der Völkerfreundschaft:
Die Rückkehr der Deportierten nach Grosny
Die Rehabilitierung der Deportierten in Moskau 245 / Die Ablehnung der
Nordkaukasier in Grosny 252 / »Banditen«: Drohgebärden und die Gewalt
der Rückkehrer 261 / Der August-Aufstand 1958 in Grosny und seine
Folgen 268 / Völkerfreundschaft: die Sowjetunion als imagined
community 276 / Der Platz der Völkerfreundschaft: 1973 in Grosny 292
-------- 242
Kapitel 7
Aufden Straßen von Grosny:
Alltag einer multiethnischen Zivilisation
Jenseits von Geschichte 312 / Die Anderen der Stadt und die Mythen
des Alltags 315 / Der kultivierte Einwohner der kultivierten Stadt 322 /
Zwischen sowjetischer Moderne und kaukasischer Tradition 334 /
Das Kopftuch: Variationen sowjetischer Zivilisation 340 / Der Herrenhut:
moderne Form lokaler Tradition 354 / Hörsaal, Boxring, Werkstatt:
das Individuum, seine Räume und Kollektive 362 / Die »goldenen«
Siebziger: Segen und Fluch der industriellen Moderne 375
310
Kapitel 8
Die Kritik der Perestroika
und die »Krise des Föderalstaates« im Kaukasus
Die Sehnsucht nach Tradition und die Neuerfindung der Nation 393 /
Sexappeal der Perestroika, Miss Grosny und die Provokation der Tradition 406 /
Die Rede vom Untergang der Nation: Kritik und Krise im Kaukasus 415 /
»Heimat von Männern, nicht Sklaven«. Der Kongress der Inguschen
in Grosny 1989 430
-------- 339
Kapitel 9
Revolution und Revanche:
Die Auflösung der multiethnischen Gemeinschaft
Kriminalität, Gewalt und die Enthemmung der Straße 440 / Die »Anarchie
der Freiheit« oder: Im Schatten der nationalen Revolution 467 /
Der »zivilisierte Weg« und der Abgrund des Bürgerkrieges 492 /
Moskaus »verfassungsmäßige Ordnung« und das Ende von Grosny 506
-------- 439
Epilog
»Die tote Stadt« und der Schmerz der Erinnerung 514 / Gemeinschaft
der Trauer, Gemeinschaft der Nostalgie 517 / Trennendes und Verbindendes:
postkoloniale Geschichte(n) 522
-------- 513
Dank ------- 530
Anmerkungen ------- 533
Abbildungsverzeichnis ------- 628
Literatur - und Quellenverzeichnis ------- 633
Personenregister 670