Cover von Das unselige Erbe wird in neuem Tab geöffnet

Das unselige Erbe

die Geschichte der Psychiatrie in Palästina 1920-1960
Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Zalashik, Rakefet
Verfasser*innenangabe: Rakefet Zalashik
Jahr: 2012
Verlag: Frankfurt am Main, Campus
Mediengruppe: Buch
verfügbar

Exemplare

AktionZweigstelleStandorteStatusFristVorbestellungen
Vorbestellen Zweigstelle: 07., Urban-Loritz-Pl. 2a Standorte: NK.HMG Zala / College 3x - Magazin: bitte wenden Sie sich an die Infotheke / Bitte wenden Sie sich an die Infotheke College 3 Status: Verfügbar Frist: Vorbestellungen: 0

Inhalt

InhaltsverzeichnisInhalt
 
 
 
Vorwort9
 
Michael Hagner
 
 
 
Einleitung 15
 
 
 
1. Moderne Psychiatrie im Heiligen Land 20
 
Die »Psychopathologie« des »Neuen Juden« 20
 
Die Anfänge 24
 
Psychiatrie und Emigration – Die »Auslese des Menschenmaterials« 33
 
Ethnizität und psychische Krankheiten 40
 
Schizophreniekranke in Palästina 51
 
Zusammenfassung 52
 
 
 
2. Die Deutschen kommen 55
 
Die Ankunft der jüdischen Ärzte in Palästina 59
 
Die Gründung der Neuropsychiatrischen Gesellschaft Eretz Israels 67
 
Die Vereinigung für psychische Hygiene Palästinas und die Eugenikfrage 73
 
Psychisch kranke Einwanderer der fünften Alijah 86
 
Die Jugendeinwanderung 93
 
 
 
3. Die Professionalisierung der israelischen Psychiatrie 1948–1960 101
 
Die Rolle der Gesetzgebung 108
 
Der Bettenmangel und die Errichtung zusätzlicher psychiatrischer Einrichtungen 115
 
Das Zeitalter der Psychopharmakologie 126
 
 
 
4. Die Schoah-Überlebenden und die israelische Psychiatrie 133
 
Die Lager der Displaced Persons 135
 
Die Frage der Psychohygiene bei Schoah-Überlebenden 142
 
Schoah-Überlebende im Staat Israel 156
 
Deutsche Entschädigungen für Schoah-Überlebende und die israelische Psychiatrie170
 
Von der Leugnung zur Anerkennung? Schoah-Überlebende mit psychischen Problemen von den
 
1970er Jahren bis zur Gegenwart181
 
 
 
Epilog 193
 
 
 
Literatur 198
 
Dank 209
 
Glossar 211
 
Kurztext / AnnotationSeit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, aufgebaut von jüdischen Einwanderern, eine eigene psychiatrische Tradition in Palästina. Deren Geschichte, die Rakefet Zalashik hier erzählt, steckt voller Paradoxien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es um die psychischen Folgen des Lebens in der Diaspora und um die Charakterisierung des "Neuen Juden". Später, in den 1930er-Jahren, brachten jüdische Psychiater aus Deutschland und Österreich - obwohl selbst Opfer der NS-Rassenideologie - den Diskurs über Eugenik und Rasse nach Palästina. Er wirkte sich aus, etwa in der Auseinandersetzung mit der "primitiven" arabischen Bevölkerung. Seit den 1940er-Jahren schließlich sahen sich die israelischen Psychiater immer öfter mit der Behandlung von Holocaust-Überlebenden konfrontiert. Wie unter einem Brennglas führt Rakefet Zalashik am Beispiel der Psychiatrie die Dilemmata der israelischen Gesellschaft vor Augen: ethnische Spannungen, das Trauma der Entwurzelung, die Integration der Holocaust-Überlebenden und das Ringen um eine jüdisch-israelische Identität.
 
TextauszugAuch den belastenden Umstand, dass die erste Frau und die Kinder des Mannes der Patientin in der Schoah umgekommen waren, ordnete Finkelstein nicht dem Verlustgefühl zu, das die Schoah-Überlebende befiel: »Als zweite Frau ihres Mannes empfand sie Minderwertigkeitsgefühle, weil sie ihrem Mann keine Kinder gebären konnte, während die erste Frau ihm zwei Kinder gebar.« Das Problem war also in Finkelsteins Augen nicht das Unvermögen, sich mit dem Verlust des Ehemannes auseinanderzusetzen, sondern die Unfruchtbarkeit von R. R. Gestützt auf die vorhandene Information kann zwar nicht behauptet werden, dass die psychische Erkrankung in diesem Falle durch die Schoah verursacht wurde, fest steht jedoch, dass die Lebensgeschichte der Patientin, ihre Vergangenheit und die traumatische Vergangenheit ihres Mannes, der seine erste Frau und seine Kinder verloren hatte, von Finkelstein bei der Analyse des Falles nicht berücksichtigt, ja eigentlich ausgeklammert wurden.
 
 
 
 
 
Eine häufige Behauptung war, dass Schoah-Überlebende in Israel weniger an den psychischen Folgen litten als solche, die sich an anderen Orten niederließen. Gestützt auf eine Studie über Schoah-Überlebende in Frankreich, laut der 74 Prozent der Befragten an psychischen Störungen litten, und auf die bereits diskutierte Studie von Fischel Schneerson behauptete Mark Dvorjetsky:
 
»Tatsächlich leiden zahlreiche Schoah-Überlebende an psychischen Komplexen, etwa an einer gewissen Entfremdung vom eingesessenen Jischuw, der keine Nazi­gräuel erlitten hat und nichts wissen will von den Gräueln und von den Heldentaten des Untergrunds, sowie an einem Gefühl der Vereinsamung […] verbunden mit Schuldgefühlen hinsichtlich ihrer in der Schoah umgekommenen Familien und dem nagenden Gedanken, vielleicht nicht alles getan zu haben, um sie vor dem Tod zu retten. Diese Komplexe verschwinden mit zunehmender Verwurzelung des Einwanderers im Land allmählich. Andererseits besteht das starke Verlangen, ein neues Heim aufzubauen und eine neue Familie zu gründen. […] Besonders hervorzuheben ist die unendliche Zuneigung, die den nach dem Krieg geborenen Kindern von Schoah-Überlebenden zuteil wird. […] Wir haben keine genauen Angaben über die Anzahl der körperlich Versehrten unter den Schoah-Überlebenden und der emotional Abgestumpften unter ihnen […], doch wir möchten darauf hinweisen, dass sich die Schoah-Überlebenden in Israel im Unterschied zu den Deportierten in Europa durch die Synthese der Persönlichkeit und des Reintegrationsprozesses ihrer Persönlichkeit auszeichnen.« (Dvorjetsky 1955, S. 64–65)
 
 
 
 
 
Im Gegensatz zu Schneerson, der sich auf die Immunisierungsthese stützte, führte Dvorjetsky den vermeintlich guten Zustand der Schoah-Überlebenden in Israel darauf zurück, dass Israel »die Schoah-Überlebenden in das normale Leben reintegrierte und ihnen die Menschenrechte zurückgab: das Recht auf Wohnung, Arbeit und Gesundheit«. Dessen ungeachtet rief er dazu auf, in Israel eine Forschungsstelle für die Erforschung der Psychopathologie einzurichten und in diesem Rahmen die Psychopathologie der Schoah als eigenes Gebiet zu etablieren, denn »nach wie vor kann jeder Arzt in Krankenhäusern oder ambulanten Kliniken die Lebensgeschichte des Patienten während des Zweiten Weltkrieges in der Krankenakte angeben […], nach wie vor können sowohl in den Krankenhäusern als auch in den ambulanten Kliniken Statistiken über die Zahl der psychisch Kranken unter den Schoah-Überlebenden erstellt werden«. (Ebd.)
 
In einer demografischen Studie im Jahre 1957 zweifelte Dvorjetsky aber bereits an der These, dass Schoah-Überlebende in Israel seltener an psychischen Störungen litten als anderswo, und stellte außerdem die Annahme in Frage, dass sie überhaupt seltener psychisch krank seien als andere Personengruppen:
 
 
 
 
 
»Gestützt auf die tägliche Beobachtung der jüdischen Schoah-Überlebenden in Israel ist festzuhalten, dass diese psychischen Störungen bei dieser Gruppe nicht besonders gehäuft auftraten oder dass sie entweder nicht richtig erforscht wurden oder nur in einem kleinen Bereich. […] Sollte die Synthese und Reintegration der Persönlichkeit der Schoah-Überlebenden in diesem Zusammenhang als jüdisches Charakteristikum bezeichnet werden? […] Wie ist der psychische Zustand der Überlebenden bzw. ihre Psychopathologie zu bewerten? Trifft es zu, dass der Anteil an psychisch Kranken unter den Schoah-Überlebenden geringer ist? Belegt dieses Phänomen eine psychobiologische Immunität der Überlebenden?« (Dvorjetsky 1957)
 
 
 
 
 
Dvorjetsky betonte in dieser Studie die Funktion des Traumas als Faktor, der alle Schoah-Überlebenden einte, sodass sie als eigene Forschungskategorie gesehen werden müssten. Zudem vertrat er den damals sehr innovativen Gedanken, dass auch die 80000 direkten Nachkommen von Schoah-Überlebenden, die nach der Ankunft ihrer Eltern in Israel geboren wurden, dieser Kategorie zuzuordnen seien, da sie »an der Seite ihrer Eltern heranwuchsen und über Jahrzehnte einen ›Überlebenden-Haushalt‹ und eine Überlebenden-Familie bilden. Die ›Sabres‹ [Kinder, die nach dem Holocaust in Israel zur Welt kamen; R. Z.], die als direkte Nachkommen von Schoah-Überlebenden in Israel geboren wurden, und bei ihren Eltern aufwuchsen, deren Erlebnisse in der Schoah – die Irrfahrten und Härten – den Kindern aus ihrem Alltag sehr wohl bekannt sind, unterscheiden sich in psychosozialer Hinsicht oft von Sabres, deren Eltern schon länger in Israel niedergelassen sind und keine solchen Erfahrungen gemacht haben. Die Kinder von Schoah-Überlebenden bilden in mancherlei Hinsicht eine Fortsetzung der Gruppe.« (Ebd.)
 
 
 
 
 
Dvorjetsky befürchtete zudem späte pathologische Folgeerscheinungen der Schoah, die erst nach erfolgter Eingliederung der Schoah-Überlebenden auftreten würden.
 
 
 
 
 
1956 veröffentlichte die Psychoanalytikerin Gerda Barag einen Artikel mit dem Titel »Spätreaktionen bei KZ-Befreiten (Pathogenese von Bewusstseinsstörungen)«, der in der israelischen psychiatrischen Literatur einen gewissen Wandel einleitete. Erstens behandelte dieser Artikel psychisch kranke Schoah-Überlebende erstmals als gesonderte Gruppe, deren gemeinsamer Nenner der Aufenthalt in Konzentrationslagern war. Zweitens ordnete Barag die psychischen Probleme der Schoah-Überlebenden direkt ihrem Aufenthalt in Konzentrationslagern zu, während zuvor erschienene Artikel sie auf Emigrationsprobleme oder allgemeine Pathologien zurückführten. Damit mar­kiert dieser Artikel die Abkehr von der Leugnung des Kausalzusammenhangs zwischen den Schoah-Erfahrungen und psychischer Erkrankung und von optimistischen Prognosen im Hinblick auf die rasche Heilung dieser Gruppe. Barag hat als erste Psychiaterin eingeräumt, dass Schoah-Überlebende an psychischen Problemen litten, die nicht von selbst vorübergehen.
 
Barag schilderte drei Fälle von Schoah-Überlebenden in ihrer Behandlung, die an plötzlichen Ohnmachtsanfällen litten. Sie stellte einen Zusammenhang zwischen diesem Symptom und der Gefangenschaft im Konzen­trationslager fest und tat es nicht als Hysterie ab. Der erste Fall betraf eine junge Frau, die 1949 von der Gesundheitskommission des Kibbuz, dem sie als Mitglied angehörte, in die Klinik geschickt worden war. Die Frau war im Alter von 18 Jahren nach Auschwitz deportiert worden. Bei der Ankunft in Auschwitz wurde sie von ihren Eltern getrennt, die umgebracht wurden:
 
 
 
 
 
»Sie musste wie viele andere Mädchen in ihrem Alter jahrelang unter den schweren Lagerbedingungen zubringen, wenn auch ohne besondere Erlebnisse. Sie berichtete, die meiste Zeit habe sie regungslos auf ihrer Pritsche gesessen, und das jahrelang. Nach drei Jahren, kurz vor der Befreiung, sei sie in ein anderes Lager gebracht worden, wo sie zur Arbeit gezwungen worden sei und einige Male körperliche Verletzungen erlitten habe.« (Barag 1956, S. 211)
 
 
 
 
 
Ein weiterer Fall betraf eine Lehrerin aus Polen, die ebenfalls 1949 in psychiatrische Behandlung geschickt worden war. Die Frau war im Alter von 21 Jahren nach Auschwitz deportiert worden, nachdem sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war und einige Zeit im Gefängnis verbracht hatte.
 
 
 
 
 
»Sie verbrachte drei Jahre in Auschwitz und verlor dort eine Freundin, die ihr nahe war wie eine Schwester und derentwegen sie ins Lager gelangt war. Die Patientin nahm den Namen ihrer Freundin an und trägt ihn bis heute. Im Lager wurde sie mehrmals geschlagen. Es gelang ihr, eine Gruppe junger Mädchen um sich zu scharen, um gemeinsam mit ihnen die grausame Realität im Lager zu verleugnen. […] Gemessen an ihren traurigen Erlebnissen scheint sie wenig gelitten zu haben, da es ihr oft gelang, die furchtbaren Dinge zu beschönigen, um ihnen nicht ins Auge blicken zu müssen. […] Im Lager verbrachte die Patientin zusammen mit ihren Leidensgenossinnen ganze Nächte, die eher an ein Mädcheninternat erinnerten, und es gelang ihr besser als den anderen Mädchen, die Lebensfreude zu bewahren.« (Ebd.)
 
 
 
 
 
Zwar leitete der Artikel wie gesagt eine Wende ein, aber in vielen Punkten nahm auch Barag die traumatischen Erfahrungen während der Schoah nicht in den Blick. Sie geht in den zitierten Absätzen zwar auf die Schoah-Erlebnisse der beiden Patientinnen ein, tut dies aber offensichtlich reduktionistisch. Ob diese Schilderungen von ihrem eigenen Unverständnis der Erfahrungen ihrer Patientinnen in den Konzentrationslagern zeugten oder vom Versuch, die Dinge »objektiv« darzustellen und dem Artikel ein wissenschaftliches Format zu geben, lässt sich nicht sagen. Die gemeinsamen Merkmale der von ihr behandelten Fälle analysierte Barag, die auch eine führende Psychoanalytikerin war, nach freudianischen Gesichtspunkten, die sich vor allem an der Kindheit der Patientinnen orientierten. Das Verhältnis der Patientinnen zu ihren Eltern sei gestört gewesen. Ihr »ödipales Objekt« habe sie enttäuscht, und es sei ihnen nicht gelungen, sich mit dem Elternteil gleichen Geschlechts zu identifizieren:
 
 
 
 
 
»Alle drei erkrankten, als sie bereits in geordneten Verhältnissen lebten, in denen ihre physische Existenz gesichert war. Aber psychisch wurden sie von ihrer Umgebung von neuem enttäuscht. […] Ihr Verhalten brachte den Willen zum Ausdruck, die Umgebung einzuschüchtern oder zu bestrafen oder zumindest Aufmerksamkeit zu erregen. […] Wie viele andere Verfolgte kamen auch diese drei Einwandererinnen mit übersteigerten Erwartungen und Hoffnungen in die auserwählte Heimat, in das ›Land, wo Milch und Honig fließen‹. […] Gut möglich, dass es gerade die Fähigkeit war, sich von der Realität abzukapseln, die sie am Leben erhielt.« (Ebd.)
 
 
 
 
 
Barag hielt in dem zweiseitigen Artikel an zwei Stellen fest, dass die Patientinnen nach kurzer Behandlung keine Bewusstseinsverluste mehr erlitten:
 
 
 
 
 
»Es hat sich herausgestellt, dass diese Reaktionen bei Patienten bereits nach kurzer Behandlung nicht mehr auftreten, ohne dass dieses Phänomen speziell untersucht werden müsste. Dennoch handelt es sich nicht um eine eingebildete Kontaktstörung [Hervorhebungen im Original; R. Z.]. Alle drei litten an den Folgen von Verhaltensstörungen, die ihr Sozial- und Berufsleben schwer beeinträchtigten.« (Ebd.)
 
Ob diese Hervorhebungen abgesehen von der Feststellung eines klinischen Sachverhalts eine Art Relativierung seitens der Autorin als Therapeutin zum Ausdruck brachte, kann nicht gesagt werden, da sie hierzu keine weiteren Ausführungen machte. Dieses Aussagen belegen jedoch zweifellos eine optimistische und vielleicht auch vereinfachende Sicht der psychischen Probleme der Schoah-Überlebenden.v

Details

Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Zalashik, Rakefet
Verfasser*innenangabe: Rakefet Zalashik
Jahr: 2012
Verlag: Frankfurt am Main, Campus
opens in new tab
Systematik: Suche nach dieser Systematik NK.HMG
Suche nach diesem Interessenskreis
ISBN: 978-3-593-39361-2
2. ISBN: 3-593-39361-1
Beschreibung: 220 S.
Suche nach dieser Beteiligten Person
Mediengruppe: Buch