Die Geschichte des europäischen Kontinents ist auch eine Geschichte der Zu- und Abwanderung, der Verfolgung und Vertreibung sowie der gezielten Kolonisierung einzelner Landstriche. Sylvia Hahn gibt einen Überblick über unterschiedliche Ansätze der Migrationsforschung und deren Theorien und Methoden. Darüber hinaus stellt sie die Zusammenhänge zwischen sozialer und regionaler Herkunft der Migranten, ihren Erwerbstätigkeiten bzw. -möglichkeiten und Migrationswegen dar.
Nicht zuletzt schildert sie anhand ausgewählter Beispiele vom Mittelalter bis heute auch Mechanismen des Ein- und Ausschlusses. Das Buch ist eine wichtige Grundlage für alle, die sich mit Migrationsgeschichte beschäftigen.
Biografische Anmerkung zu den VerfassernSylvia Hahn ist außerordentliche Universitäts-Professorin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg.
InhaltsverzeichnisInhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Homo und femina migrans . . . . . . . . . . . . . . . 15
2. Begriffe, Typologien, Theorien der Migration . . . . . 24
3. Schreiben über Migration . . . . . . . . . . . . . . . 37
4. Unterwegs in Europa im Mittelalter und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
5. Ausweisung und Vertreibung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
6. »In-Dienst-Gehen«: Migration von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
7. Migrantinnen und female breadwinner . . . . . . . . . 138
8. Europäische Binnenmigration im 19. Jahrhundert . . . 152
9. Migration im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 170
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
TextauszugEinleitung
In der kleinen norditalienischen Stadt Asiago, in der alpinen Region
in der Nähe von Belluno gelegen, steht vor dem Bahnhof
eine Skulpturengruppe, die den Titel Emigranti trägt. Die Skulptur
zeigt eine Familie mit Koffern und Reisegepäck, die in unterschiedlicher
Weise Abschied vom bisherigen Wohnort nimmt:
Der Vater blickt mit interessiertem Gesichtsausdruck nach vorne,
in die Ferne, und schreitet mit forschem Schritt aus; die Mutter,
die ein Kind an der Hand hält, schaut mit sehnsuchtsvollem und
besorgtem, bedrücktem Blick nach rückwärts in den Ort zurück.
Diese Figurengruppe, die in Asiago an die Auswanderungen der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1920 erinnern soll, ist in
vielerlei Hinsicht interessant:
1) Die gemeinsame (Aus-)Wanderung der Familie, also Familienmigration,
war durchaus üblich und hat eine lange historische
Tradition. Insbesondere bei religiösen Migranten, wie beispielsweise
den protestantischen Auswanderern nach Übersee im 16.
und 17. Jahrhundert, den Hugenotten oder den Salzburger Protestanten
im 17. und 18. Jahrhundert, wanderte meist die gesamte
Familie aus. Aber auch bei Arbeitsmigration konnten ganze Familien
und Familienverbände gemeinsam wandern. Dies war insbesondere
bei gezielten Anwerbungen bzw. Rekrutierungen von
Arbeitskräften seitens der Obrigkeiten oder der Unternehmen
der Fall. Auch die Migration nach Übersee im 19. und 20. Jahrhundert
wurde, wenn es die finanzielle Situation erlaubte, mit der
Familie unternommen. Der Großteil der Auswandernden hatte
jedoch für eine gemeinsame transatlantische Überfahrt kaum die
notwendigen finanziellen Mittel; daher mussten die jungen Männer oder Frauen meist allein auswandern. Erst nach einiger Zeit
konnten einzelne Familienmitglieder bzw. der Rest der Familie
und/oder Verwandte nachgeholt werden. Dies traf für Arbeitsmigranten
ebenso zu wie für politische Flüchtlinge. Das heißt, die
anhand der Skulptur präsentierte Auswanderungssituation einer
Familie ist eine idealtypische Darstellung, die jedoch weder in der
Vergangenheit noch in der Gegenwart für den Großteil der freiwilligen
oder unfreiwilligen Migranten die Realität darstellt.
Ein weiterer Punkt betrifft die Darstellung der Gebärden der
Auswandernden. Hier werden die Genderstereotypen des mobilen,
wanderungsbereiten Mannes (Motto: »Der Mann muss hinaus
«) und der dem Haus und Heim verbundenen immobilen
Frau wiederholt. Diese wurden spätestens durch die bürgerliche
Familienideologie des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die stark
männlich dominierte patriarchalische (und antifeministische) Intellektuellen-
und Wissenschaftlerkultur der Jahrhundertwende
fest- und in der Folge im 20. Jahrhundert fortgeschrieben. Dies
führte dazu, dass bis vor einigen Jahrzehnten die weit verbreitete
These der Immobilität der Frauen unreflektiert übernommen und
daher den Frauen in der Migrationsforschung wenig Aufmerksamkeit
geschenkt wurde. Auch Kinder sind in der historischen
Migrationsforschung kaum beachtet worden. Obwohl kindliche
(Arbeits-)Migration, allein, in der Gruppe oder mit der Familie,
seit Jahrhunderten in Europa wie auch auf anderen Kontinenten
eine lange Tradition hat, zählt dieser Aspekt zu einem noch kaum
aufgearbeiteten Forschungsbereich.
2) Die Skulptur in Asiago zählt europaweit zu den wenigen Erinnerungsobjekten
im öffentlichen Raum, die auf die lange Geschichte
der Wanderungen auf unserem Kontinent und darüber
hinaus verweisen. Daneben gibt es auch unspektakuläre Zeichen
der historischen Migration an Häusern, Plätzen und Straßen
unserer Städte und Dörfer. So geben Gedenktafeln oder die
Grabsteine auf Friedhöfen, auf denen sehr oft die Geburtsorte
der Verstorbenen vermerkt sind, Auskunft über die Herkunft
der einstmals in den Gemeinden lebenden und dort verstorbenen
Menschen.
Obwohl mittlerweile allgemein
anerkannt ist, dass Migration
eine ebenso lange Geschichte hat wie die Menschheit selbst und
daher ein wichtiger Teil der allgemeinen Gesellschaftsgeschichte
ist, erscheint es interessant, dass gerade diesem Aspekt im kollektiven
Gedächtnis, in der Erinnerungskultur der europäischen
Gesellschaft, nur wenig Platz eingeräumt wird. Migration als ein
Faktum der eigenen Familiengeschichte wird vielfach ebenso verdrängt
wie Migration als Teil der je eigenen ethnischen, regionalen,
kulturellen, nationalen und/oder religiösen Geschichte. Sesshaftigkeit
wird dabei stets als das Normale und Migration als die
Ausnahme angesehen. In Schulbüchern kommen Migrationsbewegungen
meist nur vor im Zusammenhang mit der sogenannten
Völkerwanderung, den religiösen Vertreibungen zu Beginn der
Neuzeit sowie mit Flucht und Vertreibung, während und nach
dem nationalsozialistischen Regime im 20. Jahrhundert. Fragt
man zu Beginn einer Lehrveranstaltung die Studierenden, was sie
mit dem Thema Migration assoziieren, so erhält man fast ausschließlich
diese drei Antworten. Der überwiegende Teil schließt
stets jeglichen Migrationshintergrund in der eigenen Familie aus.
Befassen sich die Studierenden in der Folge mit der eigenen Familiengeschichte
und erforschen die Eltern-, Großeltern- und Urgroßelterngeneration
auf diesen Aspekt hin, so bringen die Recherchen
meist überraschende und interessante Ergebnisse zutage:
Die Großeltern waren zum Beispiel als Optanten aus dem damaligen
Südtirol in Gebiete des heutigen Österreichs gekommen.
Oder: als Nachkommen der sogenannten »Donauschwaben« in
Rumänien, als Sudentendeutsche etc. waren sie nach dem Zweiten
Weltkrieg geflüchtet und konnten in Oberösterreich oder Salzburg
ein neues Zuhause finden. Andere wiederum gingen in der
Zwischenkriegszeit als landwirtschaftliche saisonale Arbeitskräfte
aus Salzburg oder Oberösterreich in die Umgebung des Ruhrgebietes,
um sich dort als Melker und Melkerinnen zu verdingen.
Einige Urgroßväter waren handwerklich ausgebildete Gesellen,
die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert noch auf die Walz begeben
hatten. So blieb ein Tischler aus Nürnberg in einem kleinen
Ort in Oberösterreich hängen, da der Ort einen Sargtischler benötigte
und man ihm daher ein kleines Haus als Bleibe zur Verfügung
stellte; ein anderer wiederum wanderte als Uhrmacher
von Südtirol nach Hamburg und schließlich von dort in die USA
aus. Auch die Großmütter und Urgroßmütter waren keineswegs
immobil: Sie verdingten sich als Mägde auf den Bauernhöfen im
»Innergebirg«, wie die Salzburger Alpenregion genannt wird, oder
gingen als Dienstbotinnen in eine der nahe gelegenen Kleinstädte
oder Landeshauptstädte in Dienst. Die Migrationswege konnten
aber auch nach Deutschland, in die Schweiz, ja sogar bis nach
Schweden, Kanada, Australien, Russland oder in die USA führen.
Der Großteil dieser Recherchen zeigten ganz deutlich, dass
es kaum eine Familie gibt, bei der es zu keiner Migration in den
letzten zwei, drei Generationen gekommen war. Im Familiengedächtnis
ist die Migration jedoch nur selten vorhanden und darüber
wird kaum gesprochen. Ausgewanderte Verwandte werden
aus unterschiedlichsten Gründen bewusst oder unbewusst vergessen
bzw. aus der Familiengeschichte ausgeschlossen und erst von
der jüngeren Generation bei ihren Nachforschungen (wieder-)entdeckt.
Eine gewisse Ortsgebundenheit und Sesshaftigkeit sowie
Wohn- und Arbeitsstabilität, so stellt sich meist heraus, ist erst
ein Phänomen der Elterngeneration – jener Generation, die im
Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und aufgewachsen
war.