Cover von Zwettl wird in neuem Tab geöffnet

Zwettl

Nachprüfung einer Erinnerung
Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Härtling, Peter
Verfasser*innenangabe: Peter Härtling
Jahr: 1973
Verlag: Darmstadt ; Neuwied, Luchterhand
Mediengruppe: Buch
verfügbar

Exemplare

AktionZweigstelleStandorteStatusFristVorbestellungen
Vorbestellen Zweigstelle: Bücherei der Raritäten Standorte: DR Härt Status: Verfügbar Frist: Vorbestellungen: 0

Inhalt

Dies ist kein Roman. Dies sollte kein Buch der Fiktion werden. Zwettl ist der Name einer österreichischenKleinstadt, in der Härtung als Zwölfjähriger das Kriegsende erlebte. "Nachprüfung einer Erinnerung", das kündigt verfahrenstechnische Sachlichkeit an. Offenbar glaubte Peter Härtung nach mehreren Romanen - Niembsch oderDer Stillstand, Janek - Porträt einer Erinnerung, Das Familienfest - und der Geschichte Ein Abend, eine Nacht, einMorgen durch einen direkten Bericht von selbst Erlebtem der Realität genauer, besser, sicherer habhaft zu werden,ihr eine überzeugendere Beweiskraft abgewinnen zu können als durch eine ausgedachte Geschichte. Er unternahmdamit Ähnliches wie eine Reihe anderer deutscher Autoren, die, des Erfindens von Fiktionen müde, verunsichertdurch die von vielen Seiten geschürten Zweifel an der Möglichkeit einer spezifischen ästhetischen Erfahrung, demLeser die beschriebenen Brocken ihrer Kindheits-, Jugend-oder sonstigen Erlebnisse mit der Geste der radikalenSelbstentblößung hinwerfen: Seht, so bin ich, so war ich, das habe ich erlebt!Aber waren nicht im Tagebuch einer Schnecke von Günter Grass die Passagen, in denen er erfand und mitphantastischen Einzelheiten vom Schicksal des Lehrers Zweifel erzählte, unendlich viel eindringlicher als alles, waser von seinen Wahlreisen und seinem Familienleben berichtete? Waren in Kopf und Bauch, dem autobiographischenBuch von Gerhard Zwerenz, die eingearbeiteten Teile aus früheren Büchern, in denen er seineWirklichkeitserfahrungen mit Hilfe der konstruierenden Phantasie zu bildhaften Episoden erweitert hatte, nicht vielüberzeugender und von nachhaltigerer Wirkung als der Rest? Waren nicht Tadelloser & Wolff und Uns geht'sja noch gold, in denen uns Walter Kempowski seine eigene Familie mit jubelnder Detailbesessenheit vorführte,gerade deshalb so unbefriedigend, weil sic jeder Distanz ermangeln und pure Reproduktionen sind? Und PeterHandkes Bericht vom Leben und Selbstmord semer Mutter im Wunschlosen Unglück, war er nicht nur deshalb vonder exhibitionistischen Geste befreit und so erschreckend, weil der individuelle Fall in semer Geprägtheit durch dieallgemeine Sprache vorgeführt wurde?Die bei einigen deutschen Autoren zu bemerkende Neigung zum Autobiographischen fördert, so subjektivverständlich sie als Zuflucht angesichts aller Arten von kollektiven Zwängen und Technologisierungen sein mag,die Einsicht in die Wirklichkeit weniger als eine aus Realitätspartikeln entwickelte und konstruierte Fiktion. DieErgebnisse des Einschmelzungs- und Formungsprozesses von realen Erfahrungen eines Autors zu literarischenGebilden sind interessanter und können aufschlußreicher sein als die Lieferungen des Rohmaterials. Das geformteliterarische Werk bedarf der Krücken der Bestätigung durch das faktisch Geschehene nicht, um glaubwürdig zusein. Wenn es einen wirklichen "Père Goriot" gegeben hätte, wäre das für den von Balzac erfundenen ebensobelanglos wie der Umstand, daß für Flauberts Madame Bovary die Geschichte eines Arztes namens Delamare undseiner Frau der Ausgangspunkt war. Dabei geht es nicht einmal um die Herausarbeitung des "Typischen" - im Sinnevon Lukäcs - durch dessen Entschlackung vom Zufälligen und Beliebigen (das beträfe nur das Inhaltliche), es gehtvor allem darum, das zu Betrachtende in die Distanz zu rücken und unsere Wahrnehmung durch die besondereSehweise des Autors von vorher gegebenen Orientierungen zu befreien.Solche Maßstäbe muß die Kritik anlegen, will sie es nicht bei literarischer Sozialpflege bewenden lassen, und solcheKriterien fordert Peter Hartlings ambitionierter Versuch, in dem er mit dem autobiographischen Bericht zugleichauch die Unmöglichkeit wahrheitsgetreuer Autobiographie vor Augen führen und beweisen will.Das Autobiographische: Kurz vor Ende des Krieges floh die sechsköpfige Familie Härtung - neben den Eltern:Großmutter, Tante und Schwester - aus dem tschechischen Olmütz nach Zwettl im österreichischen Waldviertel,hundert Kilometer nordwestlich von Wien. Dort wohnte sic in verschiedenen Flüchtlingsquartieren von Mai 1945bis April 1946. Dort meldete sich der Vater - bis 1942 Anwalt, dann Soldat, und zwar Kompanieschreiber - bei dersowjetischen Besatzungsmacht als ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht, kam in ein Gefangenenlager und starbeinige Wochen später.Im August 1970 veröffentlichte Peter Hartling eine kurze Beschreibung jener in Zwettl verbrachten Zeit in derF.A.Z. und in der Wiener "Presse". Diese Beschreibung enthielt einige mehr oder weniger deutlicheErinnerungsbilder von der Familie und den damaligen Ereignissen bei und nach dem Einmarsch der russischenTruppen. Die Beschreibung veranlaßte die Schwester, die Tante und Bewohner Zwettls, die die Familie gekannthatten, Hartlings Erinnerungen zu ergänzen und zu korrigieren. Es ergab sich weiterhin ein Briefwechsel mitverschiedenen Personen und Behörden über den Tod des Vaters und die Lage seiner Beerdigungsstätte. Das hattesogar die Entdeckung und Ausgrabung von Skeletten mehrerer gestorbener deutscher Kriegsgefangener auf demehemaligen Lagergelände zur Folge, das jetzt wie schon früher als Truppenübungsplatz dient.Schließlich reiste Hartling 1971 nach Zwettl und verglich seine Erinnerungen mit den örtlichkeiten, wie sie sichheute darbieten, und sprach mit einigen Personen, die sich noch an die Flüchtlingsfamilie und die damaligenGeschehnisse erinnerten.In seinem Buch mischt Hartling die drei Erfahrungsbereiche: seine eigenen Erinnerungen, die Aussagen der anderenüber die Zeit von damals und seine Erfahrungen beim Besuch sechsundzwanzig Jahre später. Stellenweise entstehendabei im Labyrinth der einander korrigierenden und sich widersprechenden Aussagen bedrängende Passagen, durchdie die Frage, wie es denn nun wirklich gewesen sei, immer quälender wird, naturgemäß jedoch keine endgültigeAntwort findet. Die Erinnerung ist nur bedingt nachprüfbar. Es ist zum Beispiel nicht einmal genau festzustellen,wer denn die Entlassungsscheine, mit denen die Soldaten sich selbst aus der Wehrmacht entließen, mit dergefälschten Unterschrift versah. War es die Mutter oder war es die Tante, die heute die nicht risikolose Tat für sichbeansprucht?Die naturgemäß besonders egozentrische Erlebniswelt des Zwölfjährigen, die nur noch bruchstückhaft imGedächtnis des Erwachsenen lebt, ist nur teilweise rekonstruierbar. Die Aussagen der anderen liefern nuroberflächliche Anhaltspunkte. Vieles, was bei der Konfrontation mit ihnen und mit dem früheren Dekor zutagegefördert wird, erscheint zudem belanglos, weil es über das Beliebige und eine rein privat sentimentale Bedeutungnicht hinausreicht. Daß es dazu dient, die bekannte Erfahrung von der Lückenhaftigkeit unserer Erinnerungen odervon der Verfälschung der Vergangenheit durch unser Gedächtnis zu belegen, schützt sie vor derBedeutungslosigkeit nicht. Man hat zeitweise den Eindruck, daß Hartling selbst im übrigen nicht so recht glaubt, erkönne bei seinem Besuch in Zwettl etwas Wichtiges erfahren, denn er resigniert bald und insistiert bei seinenGesprächspartnern nicht sonderlich. Seine Reise war eher eine selbstauferlegte Pflichtübung. Nach Ditta zumBeispiel, dem etwas älteren Mädchen, mit dem er einst sexuelle Spiele spielte, fragt er gar nicht. "Jetzt bin ichdran", schreibt er entschlossen, "allein, ich erfinde, was gewesen ist."Auch sonst muß er viel erfinden. Allzu viele Leerstellen im Gedächtnis sind auszufüllen, wenn die Bilder unddiversen Geschichten anschaulich werden sollen, wenn er sich und uns ein Bild von dem Jungen vermitteln will, derer damals war und der so weit in Vergangenheit und Vergessen entrückt ist. Wegen dieser großen Entferntheit,wegen der im Rückblick sich offenbarenden Fremdheit spricht Hartling von ihm in der dritten Person. Er ist dernicht mehr erreichbare Fremde, den der Erwachsene sich in seinem Verhalten, seiner Wahrnehmungsweisevorzustellen sucht. Der zeremonielle Umgang mit diesem Knaben-"Er" hat allerdings gelegentlich in seinerStilisierung etwas Aufreizendes, so spielerisch die Aufspaltung des Erzählers auch gehandhabt wird - im übrigenauch graphisch durch unterschiedlich mit "ich" oder "er" beginnende Zeilen mit verschieden großem Abstand vomlinken Rand.Trotz aller die Geschichten zernagenden und ausfransenden Zweifel, trotz aller Unsicherheiten, aus denen Hartlingdie berichteten Geschehnisse herauswachsen läßt, geschieht es, daß die als möglich beschriebenen Szenen sich inder Vorstellung des Lesers als real und damit stärker erweisen als die daran geäußerten Zweifel. HartlingsImaginationsvermögen, seine Erzähl-und Beschreibungsfähigkeit überwinden die Skrupel. Außerdem: sosehroffenbar für den Autor die Suche nach dem vergangenen Ich im Vordergrund des Interesses gestanden hat, wirwerden neugieriger gemacht auf die anderen Personen in den Bildern und Episoden. Auf die Mutter zum Beispiel,die von einem Russen vergewaltigt wurde und die ein Jahr später Selbstmord beging, oder auf das Verhältniszwischen Vater und Mutter, das nur angedeutet ist. Aber auch das hat Hartling offenbar gespürt und ein"Gruppenbild" benanntes Schlußkapitel angefügt, in dem die Herkunft der Mitglieder der Familie skizziert und sieals Personen charakterisiert sind. Da steckt Stoff für eine Art Familienroman, der ja nicht autobiographisch zu seinbraucht und bei dem sich - auch graphisch - noch ganz anders spielen ließe.HELMUT SCHEFFELAlle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Details

Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Härtling, Peter
Verfasser*innenangabe: Peter Härtling
Jahr: 1973
Verlag: Darmstadt ; Neuwied, Luchterhand
opens in new tab
Systematik: Suche nach dieser Systematik DR
Suche nach diesem Interessenskreis
ISBN: 3-472-86321-8
Beschreibung: 185 S.
Suche nach dieser Beteiligten Person
Mediengruppe: Buch