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Das sexuelle Bollwerk

Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich
Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Mulisch, Harry
Verfasser*innenangabe: Harry Mulisch
Jahr: 1997
Verlag: München [u.a.], Hanser
Mediengruppe: Buch
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Inhalt

In einem sehr persönlichem Zugang deutet der holländische Erfolgsautor H. Mulisch Leben und Werk des österreichischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897-1957) und verschränkt dabei Autobiographisches zu Mulisch mit Biographischem zu Reich. Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.1997, S. 47 Mulisch, Harry: Das sexuelle Bollwerk. ISBN 3-446-18947-5, 3-499-22435-6 Den Titel wird man in der approbierten Sekundärliteratur zu Wilhelm Reich bis dato vergeblich suchen. Zum einen war er 1973 in den Niederlanden erschienen und wurde erst jetzt aus Anlaß von Reichs hundertstem Geburtstag ins Deutsche übersetzt. Andererseits hat Harry Mulisch für "Das sexuelle Bollwerk" eine seltsame Zwitterform gewählt: In der zünftigen Rahmennovelle steckt ein ebensolches Sachbuch. Daß der gelernte Romancier erfrischend unbefangen - für eingeschworene Reich-Jünger vielleicht frevlerisch - ans Werk ging, mag der Popularität in wissenschaftlichen Kreisen auch nicht förderlich (gewesen) sein. Und naturgemäß gibt es ein paar Sacheinwände dagegen. Manches ist inzwischen veraltet, anderes war schon einst schlicht falsch. Zum Beispiel hat Reich den Ersten Weltkrieg nicht als "Oberleutnant" mitgemacht, sondern als Leutnant; bei den Kämpfen rund um den Wiener Justizpalastbrand 1927 kamen 90 Menschen ums Leben, nicht "Hunderte". Auch der von Mulisch bevorzugte legere Ton dürfte nicht nach jedermanns Geschmack sein, Leser vom Fach könnten an manchen Formulierungen Anstoß nehmen. Ziemlich, sogar unziemlich salopp heißt es da etwa: "Jung hielt Freud für beschränkt, Freud Jung für bekloppt" oder verallgemeinernd, "daß alle Psychiater total bekloppt sind". Die Mutter verloren Das Hauptmanko liegt aber woanders. Harry Mulisch präsentiert Wilhelm Reichs Lebensroman, der mitten im Wahn endete, in der Art eines psychoanalytischen Stationendramas. Die Tragödie begann, als der Pubertierende den Sexualverkehr der Mutter mit einem Hauslehrer belauschte und alles dem Vater verriet, weshalb die Mutter Selbstmord beging. Dieser erste, traumatische Akt ist mehrfach verbürgt, doch für einen (von Mulisch als unbestritten beschriebenen) Suizid des Vaters liegen keine schlüssigen Beweise vor. Mulisch kann sich dabei einzig und allein auf einen Hinweis im Reich-Porträt von dessen zweiter geschiedener Frau, Ilse Ollendorff-Reich, berufen. Die gründlichste Biographie, jene von Myron Sharaf, 1994 auf deutsch publiziert, hält daran wohl rechtens nicht mehr fest. Warum das von Bedeutung ist? Weil Mulisch seine seelenkundliche Rekonstruktion ausschließlich auf dem Fundament dieser beiden "Fakten" errichtet hat. Und in der Tat: Selten begegnet man einer, auch dank ihrer Sprachkompetenz, so verführerisch triftig wirkenden Krankengeschichte. Sie ähnelt mathematischen Gleichungen, die keinen Rest an Unerklärbarem, an Geheimnis zurücklassen. Aber bei der Lösung wurde leider ein bißchen geschwindelt, aus einer unbekannten eine bekannte Größe gemacht. Trotzdem sei die eigenwillige Darstellung nachdrücklich empfohlen. Sie stammt, ganz gegen den Brauch einschlägiger Publikationen, weder von einer Witwe noch von einem eingeschworenen Anhänger Reichs und vermittelt bei aller Verkürzung genaue Einblicke in seine Theorien und Entwicklung; mit geradezu brutaler Schärfe wird das Schaffen des gesunden von dem des kranken Forschers geschieden. Und nicht zuletzt ist "Das sexuelle Bollwerk" ein Produkt der Aufklärung, das den Tendenzen zum Obskurantismus energisch widerspricht. Immerhin vertreibt ein deutscher Verlag seit kurzem das zum Großteil abstruse Spätwerk Wilhelm Reichs mit gleichsam missionarischem Eifer: Beinah ein halber Laufmeter bedruckten Papiers enthält die bizarren Spekulationen des Meisters samt Bauanleitungen zum Orgon-Akkumulator und Verschwörungstheorien seiner Jünger bis hin zum Mordverdacht. Was Mulisch leistete, wird in einem Nebensatz leisen Protestes deutlich: "Wissenschaft", klagt er, entstehe grundsätzlich "auf Kosten der Literatur", mittlerweile sei deren Territorium durch fortwährende Annexionen "zu einer Art Liechtenstein zusammengschrumpft". Harry Mulisch ist erfolgreich zur Rückeroberung angetreten. Einen völlig anderen Anspruch erhebt der von Karl Fallend und Bernd Nitzschke edierte Sammelband "Der ,Fall' Wilhelm Reich". In diesem höchst nützlichen Kompendium hat die fußnotengestützte Gelehrsamkeit das Wort, wobei der Aufsatz von Nitzschke über den Ausschluß Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934 des Guten gewiß zuviel tut: Auf einer Seite stehen fünf Zeilen Text achtunddreißig Zeilen Anmerkungen gegenüber. Nitzschkes moralisierender Tonfall scheint zudem wenig geeignet, den vertrackten Zeitumständen gerecht zu werden. Da sind die Schuldigen (insbesondere der spätere Freud-Biograph Ernest Jones), und da ist der Märtyrer Reich, quasi das Opferlamm der offiziellen Psychoanalyse. Nachgetragene Polemik in Schwarz-Weiß-Manier hilft differenziertem historischem Verständnis kaum auf die Sprünge. Ausgiebig werden vom Mitherausgeber Fallend die noch nicht allgemein zugänglichen "Rundbriefe" des langjährigen Reich-Gefährten Otto Fenichel zitiert - ob Fallends Interpretation zutrifft oder nicht, kann erst die geplante Veröffentlichung dieser wichtigen Dokumente klären. Ungeachtet vieler interessanter Informationen in beiden Beiträgen beeindruckt am meisten die vergleichende Fallstudie von Johannes Cremerius über Freuds unbewußtes Beziehungsmuster im Umgang mit seinen Lieblingsschülern Jung, Rank, Ferenczi und Reich. Cremerius zeigt - frei von Ranküne - verblüffende Parallelen: Sämtliche Schüler-Söhne verstrickten sich in einer "Beziehungsfalle". Für Wilhelm Reich, der Sigmund Freud bis zum Schluß trotz schwerwiegender Differenzen bewunderte, erwies sich der Bruch - der halb Verstoßung, halb selbst inszenierter Abschied war - als besonders verhängnisvoll. Denn danach geriet sein biologistisches Denken zunehmend außer Kontrolle und führte zur fixen Idee einer "pseudonaturwissenschaflichen Universaltheorie". Erfreulicherweise artet der als Hommage gedachte Band nicht in Verklärung aus. Sebastian Hartmanns und Siegfried Zepfs ideologiekritische Würdigung von Reichs Werk vor dem Hintergrund der faschistischen Epoche nimmt kein Blatt vor den Mund. "So verrückt auch die Reichsche Naturreligion anmutet, so war sie doch nichts anderes als der gedankliche Reflex eines Sensitiven, eines blinden Sehers, auf den objektiven ,Wahnsinn'", resümieren die Autoren ihre Untersuchung, und: "Reich war kein Chronist seiner Zeit. Er war deren tragische Inkarnation." Das Leben entdeckt Von solchen Einschätzungen will die Nachlaßverwaltung Wilhelm Reichs naturgemäß nichts wissen. Unermüdlich fordert sie die Rehabilitierung des späten Reich, den sie als schmählich diffamierten Pionier betrachtet. Tagebücher und Briefe Reichs aus den Jahren 1934 bis 1939 sollen die "provokante Originalität" von Reichs postpsychoanalytischen Arbeiten beweisen. Das freilich gelingt nur sehr bedingt. Die wiederholten Ausrufe "Ich habe das Leben entdeckt!" oder die Prophezeiung "In 50 bis 100 Jahren werden sie mich vergöttern" sind eher geeignet, die Zweifel an seinem Geisteszustand zu fördern. Auch die von Reich 1939 postulierte Wahlverwandtschaft mit Galileo Galilei überzeugt nicht sonderlich: "Ich danke meinem Geschick, daß es mich in die Reihe der großen Kämpfer einreiht, daß es mir vergönnt ist, das wahrhaft heilige Feuer der Erkenntnis eine Zeitlang zu nähren!!" In biographischer Hinsicht bringt die Auswahl indes einige berührende Passagen, die Sympathie für den Mann Wilhelm Reich wecken - in der inneren Einsamkeit des Außenseiters und Emigranten, in seiner erotischen Entzündbarkeit. Von humaner Psychologie und ihren Zielen aber hatte sich der Naturforscher Reich bereits damals entfernt, er verlor sich im kalten Bezirk des Grandiosen: "Ich bin", schrieb er am 3. April 1938, "wieder mal ganz allein im Weltraum - die Menschen sind armselige Plasmahaufen - Ob das eine oder andere kaputtgeht dabei, ist gleichgültig." Über die amerikanische Ausgabe 1994 meinte die "New York Times", die Lektüre verwirre: Handelt es sich hier um einen "interesting lunatic" oder ein noch unerkanntes Genie? Wir entscheiden uns ohne Umschweife für die erste Möglichkeit. ULRICH WEINZIERL

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Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Mulisch, Harry
Verfasser*innenangabe: Harry Mulisch
Jahr: 1997
Verlag: München [u.a.], Hanser
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Systematik: Suche nach dieser Systematik PI.BP
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ISBN: 3-446-18947-5
Beschreibung: 196 S.
Schlagwörter: Reich, Wilhelm
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Originaltitel: Het seksuele bolwerk <dt.>
Mediengruppe: Buch