Was haben eine aufgeweckte 17-jährige Jugendliche, die im Hilfeplangespräch beim Eintritt ihres Vaters für die nächsten neunzig Minuten erstarrt und verstummt, eine 90-jährige Frau im Altersheim, die beim russischen Akzent des neuen, ihr liebevoll zugewandten Pflegers in Panik gerät, und der sechsjährige Schüler, der bei der Berührung der Lehrerin am Arm zur Erinnerung an seine Hausaufgaben zu schreien und um sich schlagen beginnt, gemeinsam? Bei allen Dreien könnten es traumatische Erfahrungen und fragmentierte Wiedererinnerungen aus der Kindheit sein, die dazu führen, dass sie plötzlich mit heftigen Emotionen und Anspannungszuständen reagieren.
Erkenntnisse der Psychotraumatologie haben in den letzten Jahren Einzug in die Pädagogik gehalten, Konzepte der Sozialen Arbeit und der Pädagogik haben eine psychosoziale Traumatologie hervorgebracht. Psychosoziale Fachkräfte stoßen im Alltag im Umgang mit traumatisierten Mädchen und Jungen jedoch immer wieder an die Grenzen ihrer fachlichen Möglichkeiten. Traumapädagogik versteht sich hier als eine neue Fachrichtung, um psychosoziale Fachkräfte in ihrer Arbeit zu unterstützen und traumatisierten Kindern und Jugendlichen wieder eine adäquate Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Das Buch versteht sich als Handbuch für die Praxis in ambulanten und stationären Betreuungssettings, in der Schule, im Kindergarten oder in anderen psychosozialen Hilfesystemen. Es vereint traumapädagogische Grundlagen und informiert differenziert über ganz verschiedene Zielgruppen und sehr unterschiedliche Handlungsfelder.
REZENSION: "In seiner Vielfalt spricht das Buch nicht nur die konzeptionelle Seite der Traumapädagogik an, sondern auch viele rein anwendungsbezogene Aspekte des Praxisalltags. Auf die Frage nach den Bedürfnissen unterschiedlicher traumatisierter Zielgruppen, kann der Band mehr Antworten vermitteln als jeder andere Sammelband in diesem Themenbereich zuvor." rauma & Gewalt (Christina Frank)
REZENSION: "Dem Herausgeber-Team ist es gelungen, mit dieser Publikation in kompakter Form die Vielfalt der Traumapädagogik abzubilden. Die Beiträge stellen dar, in welchen Praxisbereichen traumasensibles Verstehen bereits besser etabliert ist (z.B. in der Kinder- und Jugendhilfe), und zeigen auf, wo in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit traumapädagogischen Prinzipien noch aussteht. An manchen Stellen wären vertiefende Ausführungen oder Fallbeispiele wünschenswert, wenngleich sie den kompakten und prägnanten Charakter dieses Handbuchs schmälern würden.
Kritisch zu hinterfragen ist eine Tendenz, die bei Vertreterinnen und Vertretern der Traumapädagogik häufig auszumachen ist und auch in diesem Buch mitunter auffällt: Die geforderten besseren Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit mit traumatisierten Heranwachsenden (höhere Qualifikation des Personals, niedrigere Betreuungsschlüssel, Bemühen um ein Verstehen der Gründe und Motivationen, die auffälligem Verhalten zugrunde liegen etc.) sind für Klientinnen und Klienten mit anderen, nicht-traumatischen Belastungen und für "normale" Kinder und Jugendliche grundsätzlich ebenso zu beanspruchen.
Schließlich sei eine persönliche Anmerkung zu dem in der Traumapädagogik häufig zitierten, in Österreich aber unüblichen Begriff der "Bedarfe" von Kindern und Jugendlichen gestattet: Bedarfe zu erheben und zu erfüllen mag Aufgabe pädagogischer und politischer Institutionen sein - um den Klientinnen und Klienten gerecht zu werden, wäre es vielleicht passender zu sagen: Kinder und Jugendliche haben Bedürfnisse, die wir zu berücksichtigen haben. Fazit / Der vorliegende Sammelband versammelt Beiträge renommierter Vertreterinnen und Vertreter der Traumapädagogik und ermöglicht es an diesem Thema Interessierten, einen fundierten Überblick über aktuelle Fragen der Traumapädagogik und über die vielfältigen Praxisbereiche, in denen die Traumapädagogik zur Anwendung kommt bzw. mehr Berücksichtigung finden sollte, zu gewinnen."
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Inhalt
Silke Birgitta Gahleitner / Th omas Hensel / Martin Baierl /
Martin Kühn / Marc Schmid
Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Grundlagen des neuen Traumaparadigmas
Martin Kühn
Traumapädagogik – von einer Graswurzelbewegung zur Fachdisziplin . . . . 19
Thomas Hensel
Die Psychotraumatologie des Kindes- und Jugendalters . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Die pädagogische Triade der Traumapädagogik
Detlev Wiesinger / Wolfgang Huck / Marc Schmid / Ulrike Reddemann
Struktur- und Prozessmerkmale traumapädagogischer Arbeit
in der stationären Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Martin Baierl / Cornelia Götz-Kühne / Thomas Hensel /
Birgit Lang / Jochen Strauss
Traumaspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Martin Baierl
Traumaspezifische Bedarfe von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . 72
Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik 1:
Pädagogik und Soziale Arbeit
Gerald Möhrlein / Eva-Maria Hoffart
Traumapädagogische Konzepte in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Stefan Blülle / Silke Birgitta Gahleitner
Traumasensibilität in der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Marc Schmid / Tania Pérez / Martin Schröder / Yvonne Gassmann
Möglichkeiten der traumasensiblen/-pädagogischen Unterstützung
von Pflegefamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Martin Baierl
Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) von
traumatisierten Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Wilma Weiß
Traumasensible Familienhilfe:
Ein Beitrag zur Psychosozialen Traumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Martin Baierl
Hilfen für Eltern traumatisierter Jungen und Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik 2:
Therapeutischer und medizinischer Bereich
Andreas Krüger
Medizinische Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Marc Schmid / Katharina Purtscher-Penz / Kerstin Stellermann-Strehlow
Traumasensibilität und traumapädagogische Konzepte in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Célia Steinlin-Danielsson / Marc Schmid
Traumasensibilität und traumapädagogische Haltung in der
forensischen Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Silvia Höfer
Vernetzung von ambulanter Traumapsychotherapie und Traumapädagogik 210
Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik 3:
Menschen mit speziellen Bedarfen
Martin Kühn / Julia Bialek
Traumatisierte Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen:
Zum Auftrag der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Martin Baierl
Traumapädagogik für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung . . 239
Traumapädagogische Praxis und Forschung
Silke Birgitta Gahleitner / Ingeborg Andreae de Hair /
Dorothea Weinberg / Wilma Weiß
Traumapädagogische Diagnostik und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Silke Birgitta Gahleitner / Marc Schmid
Traumapädagogische Forschung und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294